Joachim Ringelnatz: Als Mariner im Krieg, 1928

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Joachim Ringelnatz berichtet in seiner Autobiographie „Als Mariner im Krieg“ von seiner Zeit in der Festung Wilhelmshaven im Ersten Weltkrieg.

In Wilhelmshaven und Umgebung waren Brot und die wichtigsten Lebensmittel ausgegangen. Ich schloß mich unbemerkt einigen Leuten an, die eine Kneipe wussten, wo es wenigstens Fisch gab. Zurückgekehrt, mußten wir wieder einmal antreten, warten, wieder auseinandertreten und weiter warten, ohne dass sich irgend etwas für uns änderte. Derweilen trafen immer neue Mannschaftstransporte ein. Das Bild dieser Massen lud gewiß zu malerischen und anderen reizvollen Betrachtungen ein, aber wir hatten keinen Sinn dafür. Wir hatten seit drei Tagen nicht Kleider, Strümpfe und Schuhe gewechselt, noch ein Bett gesehen. Wir waren ungeduldig und murrten über das unsinnige Stehen und Warten. Infolge des langen Sitzens im ratternden Bahnwagen standen meine Beckenknocken wie Schmetterlingsflügel ab. Auch mein Fußleiden, ein Ekzem, das mir seit Jahren zu schaffen macht, hatte sich verschlimmert, und ich fürchtete, dass man mich wegen dieser Krankheit  für dienstuntauglich erklären würde. Als wir aber schließlich durch ein Bad zur ärztlichen Untersuchung kamen, ward ich, und wurden, soweit ich das verfolgte, nach kurzem abklopfen alle für tauglich befunden, darunter Leute, die soeben erst von der Ruhr und Pest genesen waren. Würde ich nun auf ein schiff kommen?

Auch in den Büros der Kaserne herrschte ein grelles Durcheinander. Treppauf, treppab. Türen klappten, Befehle und Telefongespräche überstürzten sich und die jungen, rosigen Schreibstubenmatrosen hatten es heiß damit, die verwickelten Paßangelegenheiten zu entwirren. […] Ich hatte mir mit der Begründung, meine Hose bei einem Zivilschneider abändern zu lassen, einen Passierschein verschafft, den ich zu einem Dauerpaß fälschte. Damit verließ ich abends die Kaserne, wo ich sowieso weder Bett noch decke noch Tisch bekam. […] Als ich abends zur Kaserne zurückkehrte, ward ich von einem Posten angehalten und zur Wache gebracht, weil ich die Parole nicht wusste und man meine Paßfälschung erkannte. Indessen war weder Zeit noch Raum da, die vielen Paßschwindler einzusperren, uns so entließ man mich, nachdem man meinen Passierschein zerrissen hatte. […] Jedermann versuchte, sich irgendwie beiseite zu drücken. Die, denen das gelang, trafen sich dass im Kasino beim Grog wieder. Aber häufig wurden sie dort alle wieder ausgehoben. Die Gewieftesten aber schnallten sich ihr Seitengewehr um und schlossen sich, als wären sie im Dienst, irgendeinem Trupp an, der gerade die Kaserne verließ. Draußen, hinterm Tor, versteckten sie ihr Seitengewehr im Hosenbein und gingen spazieren. Wer hätte sich die vielen Gesichter und Namen merken können. […]

Auch dem Abendurlaub waren keine Reize mehr abzugewinnen. Die wenigen Frauen in Wilhelmshaven hatten bestenfalls nur für Offiziere etwas übrig, und was sonst herumlief waren Mariner oder Seebatailloner, dass einem der Arm beim Grüßen lahm wurde, sonst nur noch Schlachter, Papierhändler, Uniformschneider und Wirte, Leute, die größtenteils die Kulis verachteten, obwohl sie von ihnen lebten.

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